Gewissensbildung, um das Gewissen zu gebrauchen
Christoph Münchow
Autor: OLKR i.R. Dr. Christoph Münchow, Radebeul
Vorsitzender der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft
für Kriegsdienstverweigerung und Frieden (EAK), Bonn
Überlegungen zu einer weiterhin und immer neu gestellten Aufgabe
„Mach das gewissenhaft!“ höre ich noch meine Mathematiklehrerin sagen, die mich ermahnte, nicht zu schludern, sondern sorgfältig zu sein und ein gutes Ergebnis abzuliefern. Als ich achtzehnjährig bei der Musterung eine Erklärung abzugeben hatte, warum ich den Dienst mit der Waffe in der Nationalen Volksarmee verweigere und nur als Bausoldat ohne Dienst an der Waffe herangezogen werden will, berief ich mich auf mein christliches Gewissen.
Solange in Deutschland die allgemeine Wehrpflicht bestand, mussten zumeist männliche Heranwachsende und junge Erwachsene sich irgendwann mit dieser Gewissensentscheidung als eine persönliche Positionierung befassen. Das wird auch weiterhin so bleiben, aber nicht in einem so breiten, sozusagen biografisch durch die allgemeine Wehrpflicht vorgegebenen Ausmaß. Es ist auch künftig unabdingbar, sich mit dem zu beschäftigen, was das Gewissen ist und was eine Gewissensentscheidung ausmacht – nicht nur bei besonderen Konfliktfällen wie etwa die Entlassung aus der Bundeswehr nach der Anerkennung als Kriegsdienstverweigerin oder Kriegsdienstverweigerer.
Das Gewissen zu gebrauchen, ist in weiten Lebensbereichen unabdingbar. Andernfalls gilt, was der polnische Aphoristiker Jerzy Lec (1909-1966) sarkastisch formulierte: „Sein Gewissen war rein. Er benutzte es nie.“
Vom Gewissen zu reden und sich über das Gewissen Gedanken zu machen, gehört nicht zum Alltäglichen – und doch geschieht es mehr als auf den ersten Blick vermutet. Legendär wurde der Filmthriller „Frau ohne Gewissen“ des amerikanischen Regisseurs Billy Wilder aus dem Jahr 1944. In der DDR erschien 1980 das Buch „Ihr Gewissen gebot es – Christen im Widerstand gegen den Hitlerfaschismus“. Von Carl Graf Schenk von Stauffenberg, der am 23. Juli 1944 hingerichtet wurde, ist überliefert: „Es ist Zeit, dass etwas getan wird. Derjenige allerdings, der etwas zu tun wagt, muss sich bewusst sein, dass er wohl als Verräter in die Deutsche Geschichte eingehen wird. Unterlässt er jedoch die Tat, dann wäre er ein Verräter vor seinem Gewissen.“
Die Einengung des Gewissens auf die sprichwörtlichen Gewissensbisse, die Sigmund Freud auf Tabuvorstellungen und restriktive Indoktrinationen der Gesellschaft zurückführte, wird dem Gewissen als ein inneres Regulativ oder einer inneren Instanz nicht gerecht. Es geht schließlich auch um ein waches Gewissen, um ein Bewusstsein, etwas tun zu sollen, ja mit einem guten Gewissen etwas tun zu müssen, auch gegen den allgemeinen Strom – sehr im Unterschied zu dem kleinbürgerlichen ruhigen Gewissen als „sanftes Ruhekissen“.
1. Die Rede vom Gewissen und der Begriff des Gewissens sind unverzichtbar.
Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland sichert Gewissensfreiheit zu1. Als einzige konkrete Gewissensentscheidung nennt Art. 4 Abs. 3 „Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden.“
Es darf vorausgesetzt werden, dass jeder Mensch ein Gewissen hat2. Daher sollte jeder wissen, was es mit dem Gewissen auf sich hat, wenn er es mit ihm zu tun bekommt. Der Frage „Gewissen – was ist das?“ kann sich kaum jemand entziehen, auch wenn die Antworten auf diese Frage weltweit und kulturell bedingt unterschiedlich ausfallen.
Der Gewissensbegriff ist unverzichtbar, obwohl die Aussichten schwinden, damit oder mit der Berufung auf das Gewissen gesellschaftliche Steuerungen zu verbinden und einen gesamtgesellschaftlichen Konsens herbeizuführen. Um Gottes und der Menschen willen darf der Diskurs über das Gewissen im öffentlichen Raum, zwischen Kirche, Bildungsbereich, Politik und Human- bzw. Gesellschaftswissenschaften nicht verloren gehen, auch wenn uns Begriffe wie Gewissen und Gewissensbildung selten begegnen. Bei der Beschäftigung mit Werten und Normen ist es notwendig, das Gewissen als Regulativ und innere Instanz zu thematisieren.
Für die individuelle Lebensgestaltung ist der Gewissensbegriff unverzichtbar. Er rückt das Bedenken oder Voraus-Bedenken, die eigene und fremde Beurteilung des handelnden Subjekts in den Mittelpunkt und macht es zum Gegenstand der Reflexion. Es wird eine andere Dimension sichtbar neben dem empirisch bezogenen, auch wissenschaftlich untersetzten, verstandesmäßigen Wissen.
Gewissensbildung umfasst über das ethisch-moralische Wissen hinaus auch das Wecken der Gewissensempfindlichkeit und das Zulassen und die Wahrnehmung emotionaler Betroffenheit. Gewissensbildung ist auch in dieser Hinsicht unverzichtbar, darf sich aber – aus christlicher Perspektive – nicht auf ethische Moralerziehung einschränken lassen, denn das Gewissen ist nicht nur ein vergangenheitszugewandtes, sondern auch eine zukunftsbezogenes Regulativ. Zugleich ist es zum Schutz der Gewissensfreiheit notwendig, zwischen Gewissens- und Ermessensentscheidungen zu unterscheiden.
2. Wie „arbeitet“ das Gewissen?
Dem Gewissen werden dem allgemeinen deutschen Sprachgebrauch zufolge unterschiedliche Eigenschaften zugesprochen: schlecht und böse oder gut, schlafend oder wach, weit oder eng, stumpf oder scharf, untröstlich oder getröstet, unruhig oder ruhig und beruhigt, gekränkt oder gesund, ratlos oder zuversichtlich, starr oder flexibel, konsequent oder opportunistisch. Das Gewissen kann schlagen, sich regen, sich quälen, sich melden oder schweigen, geweckt oder eingeschläfert sein, wachgerüttelt oder eingelullt werden. Man kann in das Gewissen reden oder sein Gewissen erleichtern, sich ein Gewissen machen oder kein Gewissen machen, gewissenlos oder gewissenhaft sein – nach bestem Wissen und Gewissen oder auf Ehre und Gewissen handeln, solange man nicht jemanden oder etwas auf dem Gewissen hat. Alle diese „Gewissenszustände“ sind ein Reagieren darauf, dass es einen – wie auch immer wahrgenommenen und verursachten – Ruf des Gewissens gibt. Daher ist es möglich, der Stimme des Gewissens zu folgen, an sie zu appellieren oder sie zum Schweigen zu bringen.
Die Philosophen beschäftigen sich seit der Antike bis heute mit dem Gewissen, die Soziologen und Psychologen sind den Philosophen und Theologen an die Seite getreten. Das Gewissen ist für den einzelnen Menschen etwas Unbedingtes und Verpflichtendes, aber nicht in direkter Linie die Stimme Gottes in uns. Unter diesen verschiedenen Stimmen in uns meldet sich auch die Stimme Gottes zu Wort und wird als Forderung, als Warnung oder Ermutigung hörbar. Vielleicht ist es ein unmittelbares Bewusstwerden oder die Erinnerung an ein Bibelwort, das plötzlich leuchtend und klar ins Bewusstsein tritt.
Der Philosoph Immanuel Kant spricht vom „Bewusstsein eines inneren Gerichtshofes im Menschen“. Es mögen anklagende Stimmen sein, aber, so formulierte es Gotthold Ephraim Lessing, „das Gewissen ist doch mehr als eine ganze uns verklagende Welt.“ Das Gewissen lässt sich auch mit einem „inneren Kompass“ vergleichen, dessen Nadel zunächst hin und her flackert – vergleichbar dem inneren „Hin- und Hergerissensein“ – aber dann eindeutig in eine Richtung zeigt. Üblicherweise fühlt man sich gut, wenn man nach seinem Gewissen handelt; das ist dann ein „gutes“ oder „reines“ Gewissen. Handelt jemand entgegen seinem Gewissen, so hat er ein subjektiv ungutes Gefühl; ein schlechtes, nagendes Gewissen oder Gewissensbisse.
Es wird daher unterschieden zwischen dem einer Tat vorausgehenden Gewissen, das zum Schweigen kommt, wenn wir der Stimme des Gewissens gefolgt sind, und dem einer Tat nachfolgenden Gewissen – sei es, dass wir ein gutes Gewissen haben oder ein schlechtes oder eine innere Unruhe bleibt, wenn zuvor bedachte oder nicht bedachte lebenszerstörende Risiken und Nebenwirkungen bleiben oder auftreten. Dann stellt sich die Frage, wie wir zu einem getrösteten Gewissen gelangen. Diesem Thema widmete sich besonders die reformatorische Theologie und Luther, die sich fragten, wie nämlich durch den Glauben an Christus aus dem anklagenden ein getröstetes Gewissen wird.
3. Zur Unterscheidung von Gewissens- und Ermessensentscheidungen
Bei Ermessensfragen „ist Gewissenhaftigkeit gefordert, mehr aber haben sie mit Gewissen nicht zu tun.“3 Die meisten politischen Fragen sind Ermessensfragen. „Ein oder zwei Prozent Mehrwertsteuer sind keine Gewissensfrage.“4 Gewissensfragen haben etwa die Form „Kann ich das vor meinem Gewissen verantworten?“ beziehungsweise „Ich kann das vor meinem Gewissen nicht verantworten!“
Die verfassungsmäßig garantierte Glaubens- und Gewissensfreiheit setzt voraus, dass es Gewissensentscheidungen gibt, die sich an Grundkategorien (wie z.B. „gut“ und „böse“), Grundwerten und Grundnormen orientieren, die der einzelne Mensch in einer bestimmten Lage als für sich verpflichtend und absolut bindend erkennt – und andernfalls nur unter einer ernsten Gewissensnot, also gegen sein Gewissen, handeln könnte.
Richterliche Entscheidungen können nur mit Einschränkungen prüfen, ob die Berufung auf das Gewissen bzw. der als Gewissensentscheidung qualifizierte Sachverhalt tatsächlich den Charakter eines unabweisbaren, die ganze Persönlichkeit ergreifenden inneren Handlungsgebots mit zwingendem Charakter trägt und mit einem inneren Zurückschrecken vor dem Tun des Bösen und
mit einer verbindlichen persönlichen Verpflichtung dem Guten gegenüber verbunden ist.5
Die Frage, auf welchem Wege und aufgrund welcher geistigen Prämissen und Einflüsse es zu einer Gewissensentscheidung gekommen ist, ist dabei nur bedingt zulässig. Sie steht genau dann, wenn davon die Anerkennung abhängt, dass wirklich eine „Gewissens“-Entscheidung vorliegt bzw. festgestellt werden soll, ob es sich um eine Gewissensentscheidung handelt.6
Begrenzungen der Gewissensfreiheit liegen darin, dass niemand für andere ein Gewissen zu haben beanspruchen kann. Niemand kann unter Berufung auf sein eigenes Gewissen jemand anderen autoritativ verpflichten, ebenso zu handeln oder gegebenenfalls persönliche Nachteile auf sich zu nehmen. Ferner sind als Beschränkung der Gewissensfreiheit das Gemeinwohl zu nennen und die verfassungsgemäße Rechtsordnung. Jedoch gibt es auch in einem Rechtsstaat Situationen, in denen im konkreten Fall jemand aus Gewissensgründen gegen geltendes Recht verstößt. Nimmt eine Person in Anspruch, sich auf das eigene Gewissen zu berufen, ist es wünschenswert oder sogar erforderlich, dass sie anderen über ihre Entscheidung Auskunft geben kann.
Da es objektive Schwierigkeiten gibt zu prüfen, ob eine vom Grundgesetz geschützte Gewissenentscheidung im Rahmen der Glaubens- und Gewissensfreiheit vorliegt, versuchen Gerichte eine „gewissensschonende Alternative“ zu finden.7 Es gilt: Gewissensfreiheit umfasst die staatlich tolerierte persönliche Gewissensentscheidung und daraus folgende Haltung und Handlung. Die
Gewissensfreiheit bewahrt „nicht nur die Innensphäre der Persönlichkeit vor manipulatorischen Eingriffen, sondern schützt auch die Umsetzung innerer Verhaltensmaßstäbe.“8
4. Die Aufgabe der Aufklärung über das Gewissen, der Gewissensformung und Gewissensbildung
Wer von Gewissen, Gewissensbildung und Gewissensentwicklung redet, ist schnell dem Vorwurf des Hinterwäldlerischen ausgesetzt. Die Herausbildung eines individuellen Gewissens wird den eher belächelten „Gutmenschen“ überlassen.
Die Pluralität der Lebensentwürfe und Lebenshaltungen bringt auch Ratlosigkeit oder zumindest die Suche nach Orientierung mit sich. Was soll gelten und was gilt? Diese innere Unruhe kann auch mit einem unruhigen Gewissen verbunden sein. Die Anforderungen an den Einzelnen steigen – und er fühlt sich alleingelassen mit den Sachfragen sowie in der Suche nach der „eigenen Mitte“.
Die Anforderungen des Alltags, in welcher Gestalt und Intensität auch immer, sind hoch. Jeder Mensch spürt irgendwann, manche Menschen permanent, den Anforderungen nicht gerecht werden zu können. Ungefragt wird sich der Mensch seiner Ohnmacht, seines Ungenügens bewusst, unabhängig davon, in welchem Maße er sich dieses eingesteht oder nicht. Niemandem darf diese Erfahrung aufgedrängt werden. Aber sie ist ernst zu nehmen. Es ist wahrzunehmen, dass sich in solchen Situationen nicht nur Gefühle melden, sondern auch die Stimme des Gewissens. Es muss gesagt – oder entdeckt werden – was das ist, was sich da meldet.
Martin Luther versteht das Gewissen als eine in doppelte Richtung führende Erfahrung des Menschen, als Selbstwahrnehmung und Gotteserfahrung. Die ethische bzw. moralische Gewissensproblematik war für Luther von untergeordneter Bedeutung. Im Zentrum stehen das Verständnis des Menschen und Gottes und die Beziehung zueinander, nämlich die Bindung des Gewissens an Gottes Wort und die Erfahrung des befreiten, getrösteten Gewissens als Markenzeichen der Theologie Luthers und der reformatorischen Theologie überhaupt.
Gewissensformung in evangelischem Sinne sollte verzichten, das Schuldgefühl zu instrumentalisieren, sondern kann auf emotionales Betroffensein rechnen, beispielsweise auf Mitgefühl, Mitleid, Scham und dann auch auf Schuld und Schuldverflochtenheit angesichts dessen, was Menschen und der Kreatur widerfährt. Emotionale Betroffenheit und die Bereitschaft, nicht wegzuschauen, wenn anderes Leben beschädigt, beeinträchtigt oder ausgelöscht wird, sind ein guter Ausgangspunkt für das Gespräch mit Menschen aller Altersstufen über das Gewissen. Die Zielrichtung sind die Heilung des Zerbrochenen und die Vergebung als der weite Horizont christlicher Freiheit.
Insbesondere nach evangelischem Verständnis ist das Gewissen auch auf das ethische Verhalten und die Urteilsbildung bezogen und agiert als moralische Instanz zur Unterscheidung und Urteilsbildung. Diese „Engführung“ wird aber in einer „transmoralischen“ Weise aufgeweitet: Das Gewissen meldet sich nicht allein im Blick auf unser moralisches Verhalten. In dem Ruf des Gewissens kann erfahrbar werden oder wird erfahrbar, dass wir eingebunden sind in und angesprochen werden auf eine Wirklichkeit, die außerhalb unser selbst liegt („extra nos“), die wir weder produzieren noch beseitigen können. Daher ist die Gewissensbildung nicht mit der Schärfung des Gewissens als Normeninstanz und mit der Entwicklung einer moralischen Anlage erfüllt, sondern hat die „Identitätsfindung und Befreiung der Gesamtperson zum Ziel“.9
Es ist unmöglich, dass der Mensch sich selbst ein gutes Gewissen verschaffen kann, es sei denn, es gelingt ihm selbst die Stimme des Gewissens – wie auch immer – zum Schweigen zu bringen. Die Beschwichtigungen anderer Personen oder Autoritäten (z. B. Medien, „Zeitgeist“) helfen nicht oder nicht wirklich. Grundlegend ist daher die Erfahrung, dass der Mensch sich nicht selbst ein gutes Gewissen verschaffen kann. Dies geschieht durch das befreiende Wort Gottes. Es muss zugesprochen werden, dass auch der fordernde Gott zugleich ein hingebungsvoll liebender und vergebender Gott ist, und dieses ganz und gar. Wenn die anklagende, fordernde Stimme des Gewissens zum Schweigen gebracht ist, kann der Mensch aufatmen. Das ist die Erfahrung des befreiten, beruhigten, getrösteten, des guten Gewissens. Das „befreite Gewissen“ steht neben der Erfahrung der „Freiheit eines Christenmenschen“ und ist deren Zwilling.
Ein getröstetes, fröhliches Gewissen ist zugleich ein waches Gewissen, das sich dem Tun des Notwendigen zuwendet ohne Leistungsdruck, frei vom Zwang zur Selbstverwirklichung oder vom Terror des gelingenden Lebens. Es wird somit möglich, auch dann Verantwortung zu übernehmen, wenn die Last zu schwer scheint oder die Folgen (noch) nicht klar abzuschätzen sind, so wie Luther seinem Freund Melanchthon riet: „Sei ein Sünder und sündige tapfer, aber glaube kräftiger und freue dich in Christus.“10
Dietrich Bonhoeffer hat in seiner Ethik in einer besonderen, christusbezogenen Weise den Gedanken der Verantwortung aufgenommen: „Das befreite Gewissen ist … weit geöffnet für den Nächsten und seine konkrete Not.“11 Daraus erwächst indes eine unaufhebbare Spannung zwischen dem in Christus befreiten Gewissen und der Verantwortung, da verantwortliches Handeln zwangsläufig auch Schuldtragen notwendig werden lässt. Aber die Auseinandersetzung zwischen Gewissen und konkreter Verantwortung „bedeutet nicht einen ewigen Konflikt … denn der Grund, Wesen und Ziel der konkreten Verantwortung ist ja derselbe Jesus Christus, der der Herr des Gewissens ist.“12 Das von der Sorge um sich selbst befreite Gewissen des Christen kann dann auch in der Sorge für andere unruhig sein, so dass die großen Ziele wie Übernahme von Weltverantwortung für Gerechtigkeit, für Frieden und für die Bewahrung und Erhaltung der Schöpfung in kleine Schritte umgesetzt und gelebt werden können.
Es ist – auch theologisch – nicht zufällig und nicht nur dem „Zeitgeist“ geschuldet, dass die Vorrangstellung des früher zentralen Gewissensbegriffs zunehmend vom Begriff der Verantwortung übernommen wurde. Der Verantwortungsbegriff transportiert bestimmte Implikationen des Gewissensbegriffs. Die Stärke des Verantwortungsbegriffs kann darin liegen, dass er im Unterschied zum Pflichtbegriff bewusst macht, dass die Übernahme von Verantwortung oder das Nachdenken, wie weit oder begrenzt der Bereich der eigenen Verantwortung ist, der kritischen Reflektion bedarf. Pflichten hat man. Verantwortung muss man übernehmen.
Die freie, kritische und bewusste Verantwortungsübernahme verweist im Grunde auf Funktionen des Gewissens bzw. eines „gewissenhaften“ Lebens: Sich auf sein Gewissen zu berufen heißt zugleich, zur Übernahme von Verantwortung bereit zu sein. Das Gewissen drängt, verantwortlich zu handeln.
Ein befreites, zur Verantwortung befähigendes und zuversichtliches Gewissen kann weder anerzogen noch angepredigt werden. Aber der Weg von der Resignation, vielleicht auch aus Enttäuschung und Ohnmacht, zu neuen, sehr persönlichen, positiven Erfahrungen kann aufgezeigt, verlockend vor Augen gestellt und begleitet werden. Hier zeigen sich die Möglichkeiten und Grenzen einer dem Evangelium gemäßen Gewissensbildung.
Fußnoten
1 Art. 4 Abs. 1: Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.
2 Vgl. Art. 1 der Allgemeinden Erklärung der Menschrechte der UNO, 10. Dezember 1948: Alle Menschen sind
frei und gleich an Würden und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt […].
3 Richard Schröder: Über das Gewissen, KAS-Publikationen 1/2007, St. Augustin 2007, S.
4 Richard Schröder: Über das Gewissen, KAS-Publikationen 1/2007, St. Augustin 2007, S. 15
5 Hier zeigt sich übrigens der besonders von Martin Luther hervorgehobene Gedanke, dass das freie Gewissen
ein gebundenes Gewissen ist, vgl. Luther 1521 auf dem Reichstag zu Worms: „Mein Gewissen ist im Wort Gottes gefangen. Und ich kann und will auch nichts widerrufen, da gegen das Gewissen zu handeln weder sicher noch heilsam ist“, vgl. 1521-1971. Luther in Worms. Ein Quellenbuch. Hrsg. Joachim Rogge, Berlin (Ost) 1971, S. 91 ff.
6 Vgl. Bundesverfassungsgericht Dezember 1960 (BVerfGE 12, 35 – Kriegsdienstverweigerung, siehe http://www.servat.unibe.ch/dfr/bv012045.html, 20.12.2012, 14 Uhr
7 Wer z.B. aus Gewissensgründen jeden Eid ablehnt, kann auch ohne Eidesformel erklären „Ich sage im Folgenden die Wahrheit.“ (vgl. R. Schröder [wie Anm. 6], S. 17, vgl. ebenda S. 18 verschiedene Beispiele für nicht anerkannte Berufungen auf das Gewissen, z.B. situationsbedingte Wehrdienstverweigerung nur bei bestimmten Kriegen und gegen bestimmte Gegner oder Atomstromverweigerung, da der Kläger den entsprechenden Anteil Strom am Gesamtaufkommen sparen könne.)
8 Matthias Herdegen: Gewissensfreiheit, in: Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band 1, 2. Aufl. Berlin 1994, S. 482; vgl. auch die Thesenreihe des Rates der EKD „Gewissensentscheidung und Rechtsordnung“ (EKD Texte 61) Hannover 1997, formuliert aufgrund aktueller Anlässe der „Militärsteuerverweigerung aus Gewissensgründen“ und „Kirchenasyl“; ferner: Denkschrift des Rates der EKD „Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen“, Hannover, 2007, bes. S. 40 ff.: „Gewissen schützen und beraten“
9 Vgl. Reinhold Mokrosch: Gewissenserziehung im Religionsunterricht, in: Der evangelische Erzieher, Jg. 32, H. 4, 1980, bes. S. 287., vgl. ders: Heute noch vom Gewissen reden?, in: Werte, Erziehung, Religion, Hrsg. Volker Eisenbast u.a., (Veröffentlichung des Comenius-Instituts), Münster 2008, S. 124 ff.
10 So muss der meist nur unvollständig zitierte Satz lauten. (vgl. Brief Luthers vom 01.08.1521, Dr. Martin Luthers Werke, Weimarer Ausgabe, Briefwechsel, Band 2, S. 370, 84f: „Esto peccator et pecca fortiter, sed fortius fide et gaude in Christo“)
11 Dietrich Bonhoeffer: Ethik, Werke, 6. Band, München 1992, S. 279