Gerechter Krieg – gerechter Frieden

Renke Brahms

Autor: Renke Brahms
Friedensbeauftragter des Rates
der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD)

Vortrag auf dem Ökumenischen Forum 2011 des Arbeitskreises Konziliarer Prozess der Konföderation evangelischer Kirchen in Niedersachsen zum Thema „Kirche des Friedens werden.“

1. Gerechter Friede und die Friedenskonvokation von Kingston

Beginnen möchte ich mit zwei Zitaten aus der Abschlusserklärung der Friedenskonvokation von Jamaika: Im ersten Teil lautet es:

„Gott segnet die Friedfertigen. Die Mitgliedskirchen des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) und andere Christen und Christinnen sind wie nie zuvor vereint in ihren Bestrebungen, Mittel und Wege zu finden, um gegen Gewalt vorzugehen und Krieg zur Herstellung eines „gerechten Friedens“ abzulehnen. Gerechter Friede entsteht durch eine gemeinsame Antwort auf Gottes Ruf, Frieden in Gerechtigkeit herzustellen. Gerechter Friede lädt uns ein, den vor uns liegenden Weg gemeinsam mit anderen zu gehen und uns zu verpflichten, eine Kultur des Friedens aufzubauen….“1

Dazu drei Bemerkungen:

  1. Es ist in der Tat eine große Ermutigung, dass sich 1.000 Christinnen und Christen zur Friedenskonvokation in Jamaika getroffen haben. Allein die Tatsache, dass dieses Treffen stattgefunden hat, dass Christinnen und Christen aus unterschiedlichen Kirchen und Nationen ihre Erfahrungen miteinander teilen konnten und dass die Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen 2013 in Busan unter dem Thema Gott des Lebens, weise uns den Weg zur Gerechtigkeit und Frieden stattfinden wird, ist ein großes Zeichen der Einheit – und ein Erfolg der vielen Engagements im Bereich der Dekade zur Überwindung von Gewalt.
  2. Die Friedenskonvokation in Kingston/Jamaika hat den Leitbegriff des gerechten Friedens nicht nur in den Mittelpunkt gerückt, sondern ihn auch zu einem gemeinsamen und einenden Leitbegriff verfestigt. Das ist ein nicht hoch genug zu schätzender und zukunftsweisender Schritt – auch wenn noch viele Themen offen sind. Zu dem Leitbegriff des gerechten Friedens möchte ich später noch etwas sagen.
  3. Auch wenn die Abschlusserklärung von Kingston festhält, dass die Mitgliedskirchen des Ökumenischen Rates der Kirchen und andere Christinnen und Christen im Bestreben nach Frieden vereint sind, muss hier angemerkt werden, dass der Ökumenische Rat der Kirchen etwa ein Drittel der Weltchristenheit vertritt. Auch wenn davon auszugehen ist, dass in anderen Kirchen das Leitbild des gerechten Friedens bedeutsam ist, bleibt dennoch die Tatsache, dass es auch andere Strömungen innerhalb der Weltchristenheit gibt, die nach wie vor einem Leitbild eines gerechten oder zumindest gerechtfertigten, legitimierten Krieges verbunden sind. Es bleibt die Aufgabe, die Weltchristenheit unter diesem Leitbegriff zu einen.

Noch einmal ein Zitat aus der Abschluss-Erklärung von Kingston:

Und unter der Überschrift „Friede zwischen den Völkern“ heißt es:

„Die Geschichte führt uns, insbesondere im Zeugnis der historischen Friedenskirchen, vor Augen, dass Gewalt gegen den Willen Gottes ist und keine Konflikte lösen kann. Aus diesem Grund gehen wir über die Lehre vom gerechten Krieg hinaus und bekennen uns zum gerechten Frieden. Voraussetzung dafür ist, dass Konzepte nationaler Sicherheit, die sich exklusiv auf die eigene Nation konzentrieren, zugunsten der Sicherheit für alle überwunden werden. Dazu gehört, dass Tag für Tag daran gearbeitet werden muss, Ursachen von Gewalt vorzubeugen, das heißt, sie zu vermeiden. Viele praktische Aspekte des Konzepts des gerechten Friedens erfordern Diskussion, Urteilsfindung und weitere Ausarbeitung. Wir ringen weiter um die Frage, wie unschuldige Menschen vor Ungerechtigkeit, Krieg und Gewalt geschützt werden können. In diesem Zusammenhang stellen wir uns tiefgreifende Fragen zum Konzept der „Schutzverantwortung“ und zu dessen möglichem Missbrauch. Wir rufen den ÖRK und seine Partnerorganisationen dringend auf, ihre Haltung in dieser Frage weiter zu klären.“2

Auch dazu einige Bemerkungen:

  1. Historisch und theologisch zu Recht formuliert die Abschluss-Erklärung, dass wir aus den geschichtlichen Erfahrungen heraus über die Lehre vom gerechten Krieg hinausgehen und uns zum gerechten Frieden bekennen müssen. Die Lehre vom gerechten Krieg war keine Begründung eines gar heiligen Krieges, sondern eine Begrenzung der Kriege. Mit der Lehre vom gerechten Krieg wollten die Kirchenväter Augustin und Thomas von Aquin und im Gefolge dieser auch die Reformatoren, wie Martin Luther, Kriege begrenzen, banden sie an enge Kriterien und wollten die Folgen von kriegerischen Auseinandersetzungen so gering wie möglich halten. Die Geschichte zeigt dabei, dass diese Lehre vom gerechten Krieg immer wieder missbraucht wurde für die Rechtfertigung von kriegerischen Auseinandersetzungen, die über eine reine Verteidigung hinausgingen.
    Mit der eben zitierten Formulierung schließt sich die Abschluss-Erklärung von Kingston an die Erklärung der Ökumenischen Versammlung in Dresden aus dem Jahre 1989 an. Diese Erklärung war eine der prägenden und wegweisenden Texte im Konziliaren Prozess des Ökumenischen Rates der Kirchen, der mit der Weltversammlung 1983 in Vancouver offiziell begann. In der Erklärung heißt es sehr prägnant zum Stichwort des gerechten Friedens: „Mit der notwendigen Überwindung der Institution des Krieges kommt auch die Lehre vom gerechten Krieg, durch welche die Kirchen den Krieg zu humanisieren hofften, an ein Ende. Daher muss schon jetzt eine Lehre vom gerechten Frieden entwickelt werden, die zugleich theologisch begründet und dialogoffen auf allgemein-menschliche Werte bezogen ist. Dies im Dialog mit Andersglaubenden und Nichtglaubenden zu erarbeiten, ist eine langfristige ökumenische Aufgabe der Kirchen.“3 Damit ist der Bogen vom Beginn des Konziliaren Prozesses, über Vancouver 1983 bis hin zur Friedenskonvokation in Jamaika geschlagen. Friedenstheologisch und friedensethisch ist der Schritt von der Lehre vom gerechten Krieg zur Lehre vom gerechten Frieden damit noch einmal betont und auch vollzogen.
  2. Die Abschluss-Erklärung von Kingston betont, dass Tag für Tag daran gearbeitet werden muss, Ursachen von Gewalt vorzubeugen, d.h. sie zu vermeiden. Damit wird noch einmal pointiert auf die Dekade zur Überwindung von Gewalt Bezug genommen. Frieden und die Überwindung von Gewalt ist ein Prozess, an dem Tag für Tag gearbeitet werden muss. Die vielen Beispiele von Projekten und Aktionen in der Dekade zur Überwindung der Gewalt zeugen von einer großen Vielfalt solcher täglichen Arbeit, ob das im Kontext der Kirchen in Deutschland oder der weltweiten Christenheit geschieht. Es war sicher eine große Stärke, dass in Kingston eine Vielzahl solcher konkreten Projekte vorgestellt werden konnten und damit auch der Gedanke eines Erntdankfestes am Ende der Dekade aufgenommen wurde.
  3. Die Abschluss-Erklärung benennt aber auch die weiterhin offene und ungelöste Fragestellung, wie unschuldige Menschen vor Gerechtigkeit, Krieg und Gewalt geschützt werden können, und sie befragt in diesem Zusammenhang das Konzept der Schutzverantwortung und dessen möglichen Missbrauch. Damit taucht nicht etwa die Denkfigur oder die Lehre vom gerechten Krieg wieder auf, wohl aber die im Hintergrund dieser Lehre stehenden Fragen und Situationen. Dabei stellen sich diese Fragen auf einem anderen historischen Kontext nach dem Ende des Kalten Krieges.

Die Mehrzahl der kriegerischen Konflikte sind heute nicht mehr die zwischen einzelnen Staaten, sondern innerhalb von Staaten. Dazu gehören Bürgerkriege oder auch die Situation in den sogenannten failed states. Und dazu gehören auch die sogenannten asymmetrischen Kriege, in denen nicht Armeen gegeneinander kämpfen, sondern Formen des Guerilla-Krieges angewandt oder Anschläge und Selbstmord-Attentate verübt werden. Die Frage nach gerechtfertigten militärischen Interventionen stellt sich heute vor allem im Kontext der Schutzverantwortung des Konzeptes der Responcibility to protect dar. Gibt es eine Schutzverantwortung für Völker oder Bevölkerungsgruppen, die eine militärische Intervention gerechtfertigt erscheinen lassen und gibt es alternative Wege der Gewaltfreiheit zur Eindämmung solcher Konflikte? Diese Frage, das legt auch die Abschluss-Erklärung der Friedenskonvokation dar, ist innerhalb der Christenheit keineswegs geklärt, auch nicht im Rahmen der im Ökumenischen Rat vertretenen Mitgliedskirchen. Deshalb ruft die Abschluss-Erklärung zu Recht den ÖRK und seine Partnerorganisationen dazu auf, ihre Haltung in dieser Frage weiter zu klären.

Im zweiten Teil meines Vortrages möchte ich nun noch einmal den Leitbegriff des gerechten Friedens beleuchten, so, wie er in der Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen dargelegt ist und wie er in Kingston diskutiert bzw. in das Abschluss-Dokument aufgenommen worden ist.

2. Das Leitbild des Gerechten Friedens nach der Denkschrift „Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen“

2.1 Theologische Grundlegung

„Aus Gottes Frieden leben“ beschreibt die theologische Grundlegung und Haltung des christlichen Glaubens. Wir leben zu allererst von dem von Gott geschenkten Frieden, „der höher ist als alle Vernunft“ (Philipper 4,7), wir feiern ihn im Gottesdienst, wir erbitten ihn von Gott und lassen ihn uns im aaronitischen Segen zusagen („…und schenke dir seinen Frieden.“ Num 6,24f). Indem die Denkschrift mit dem Leitbild des gerechten Friedens den Frieden aus der Mitte des gottesdienstlichen Geschehens begründet, rückt sie den Frieden in die Mitte des gesamten Glaubens. Frieden ist damit kein Randthema der Kirche, sondern Thema der Mitte des Glaubens.

Frieden ist dabei im biblischen Sinne des Schalom als ein Zusammenspiel verschiedener Aspekte zu verstehen und beschreibt das umfassende Wohlergehen, ein intaktes Verhältnis der Menschen untereinander, zur Gemeinschaft, zur Mitwelt und zu Gott.

2.2 Der enge Zusammenhang von Frieden, Gerechtigkeit und Recht

Konstitutiv gehört zum „Gerechten Frieden“ der enge Zusammenhang von Frieden, Gerechtigkeit und Recht.

Einerseits betont Gerechter Friede also den engen Zusammenhang von Gerechtigkeit und Frieden wie er im Konziliaren Prozess von „Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung“ entwickelt wurde. Frieden wird dabei als Prozess zunehmender Gerechtigkeit und abnehmender Gewalt verstanden. Bei Jesaja 32 heißt es: „Die Frucht der Gerechtigkeit wird Frieden sein…“

„Gerechter Friede“ beschreibt andererseits auch den engen Zusammenhang von Frieden und Recht und darin auch die an allgemein-ethische Vorstellungen anschlussfähige Argumentation. Dabei geht es im Rahmen einer globalen Friedensordnung als Rechtsordnung um ein funktionsfähiges System kollektiver Sicherheit, um die Gewährleistung der universellen und unteilbaren Menschenrechte, um die Gewährleistung von Mindestbedingungen für eine transnationale Gerechtigkeit und um die Ermöglichung kultureller Vielfalt.

In der Konsequenz bedeutet dies, internationale Rechtssysteme zu stärken und auszubauen. Wer den Frieden will, muss multilateral denken und handeln und die internationalen Rechtssysteme stärken.

Zusammenfassend zitiere ich: „Friedensfördernde Prozesse sind dadurch charakterisiert, dass sie in innerstaatlicher wie in zwischenstaatlicher Hinsicht auf die Vermeidung von Gewaltanwendung, die Förderung von Freiheit und kultureller Vielfalt sowie auf den Abbau von Not gerichtet sind. Friede erschöpft sich nicht in der Abwesenheit von Gewalt, sondern hat ein Zusammenleben in Gerechtigkeit zum Ziel. In diesem Sinn bezeichnet ein gerechter Friede die Zielperspektive politischer Ethik.“4 Dem entspricht eine vierfache Schutzfunktion: Schutz vor Gewalt, Schutz der Freiheit, Schutz vor Not, Schutz kultureller Vielfalt.

2.3 Vorrang für Gewaltfreiheit, zivile Mittel der Konfliktbearbeitung und der Prävention

Die Denkschrift ist geprägt vom Vorrang für Gewaltfreiheit, zivile Mittel der Konfliktbearbeitung und der Prävention. Dazu heißt es im Vorwort:

„Durchgängig wird in der Denkschrift die Notwendigkeit der Prävention hervorgehoben; gewaltfreien Methoden der Konfliktbearbeitung wird der Vorrang zuerkannt; den zivilen Friedens- und Entwicklungsdiensten wird für die Wiederherstellung, Bewahrung und Förderung eines nachhaltigen Friedens eine wichtige Rolle zugeschrieben.“5

„Wer den Frieden will, muss ihn vorbereiten“ – Die Bildungsverantwortung der Kirche schließt ausdrücklich die Friedenspädagogik ein. Die Prävention in Familie, Kindergarten, Schule stellt dabei ein wichtiges Handlungsfeld dar.

Die Denkschrift verfolgt keinen pazifistischen Ansatz – betont aber den Vorrang der zivilen und gewaltfreien Konfliktbearbeitung als einer vorrangigen Aufgabe. Dabei weist sie auf Organisationen aus dem kirchlichen Raum und den Aktionsplan der Bundesregierung zur zivilen Krisenprävention hin.

2.4 Der Leitbegriff des Gerechten Friedens

Der Leitbegriff des Gerechten Friedens begreift Frieden als Prozess und immerwährende Aufgabe. Deshalb ist auch eher vom Leitbegriff als von einer Lehre des Gerechten Friedens zu reden. Tag für Tag muss daran gearbeitet werden.

Indem ich die Grundlinien de Gerechten Friedens nach der Denkschrift hier in aller Kürze darstelle, will ich deutlich machen, dass dies Schwerpunkt und Stoßrichtung der Denkschrift ist. Sie denkt vom gerechten Frieden her und zeigt Wege zu diesem Engagement auf. Sie will kirchliche wie nicht-kirchliche Akteure ermutigen, für einen gerechten Frieden zu sorgen.

Im Zusammenhang von Frieden und Recht geht es allerdings auch um die Frage, wie dieses Recht durchgesetzt werden kann angesichts grober Rechtsverletzungen – darauf gibt die Denkschrift eine Antwort auch mit der Konzeption einer rechtserhaltenden Gewalt.

2.5 Rechtserhaltende Gewalt

Die vorrangige Option für Gewaltfreiheit prägt die Denkschrift. Dennoch können Situationen eintreten, die zur Durchsetzung von Recht die Anwendung von völkerrechtlich legitimierter Gewalt erfordern: „Das christliche Ethos ist grundlegend von der Bereitschaft zum Gewaltverzicht (Mt 5,38ff.) und vorrangig von der Option für die Gewaltfreiheit bestimmt. In einer nach wie vor friedlosen, unerlösten Welt kann der Dienst am Nächsten aber auch die Notwendigkeit einschließen, den Schutz von Recht und Leben durch den Gebrauch von Gegengewalt zu gewährleisten (vgl. Röm 13,1–7).“6

Der Einsatz des Militärs ist allerdings nur in schwersten Fällen von Menschenrechtsverletzungen, Genozid und Massenmord im Zusammenhang einer nicht mehr funktionierenden Staatlichkeit als Ausnahmetatbestand denkbar. Hier tauchen einige der Kriterien aus der Lehre vom gerechten Krieg wieder auf – nun allerdings erstens in einem anderen Kontext, unter anderem Vorrang und um Gesichtspunkte erweitert.

Fragen und Kriterien für den Einsatz rechtserhaltender Gewalt sind dabei:

  • Gibt es dafür einen hinreichenden Grund?
  • Sind diejenigen, die zur Gewalt greifen, dazu ausreichend legitimiert?
  • Ist es wirklich das äußerste Mittel?
  • Verfolgen sie ein verantwortbares Ziel?
  • Beantworten sie ein eingetretenes Übel nicht mit einem noch größeren?
  • Gibt es eine Aussicht auf Erfolg?
  • Wird die Verhältnismäßigkeit gewahrt?
  • Bleiben Unschuldige verschont?

Militärische Einsätze müssen

  • einer Überprüfung durch den Internationalen Gerichtshof offen gegenüber stehen
  • Bestandteil einer kohärenten Friedenspolitik unter dem Primat des Zivilen sein
  • Bestandteil eines friedenspolitischen Gesamtkonzeptes incl. einer Exitstratgie sein
  • evaluiert werden

„Nach herkömmlicher Auffassung der Ethik müssen für den Gebrauch von legitimer Gegengewalt alle diese Kriterien erfüllt sein, gleichgültig ob im Fall eines innerstaatlichen Widerstands, eines Befreiungskampfes oder militärischer Konflikte zwischen Staaten. Aber auch in Fällen, in denen alle Kriterien erfüllt zu sein scheinen, ist es aus der Sicht christlicher Ethik problematisch und missverständlich, von einer »Rechtfertigung« des Gewaltgebrauchs zu sprechen. In Situationen, in denen die Verantwortung für eigenes oder fremdes Leben zu einem Handeln nötigt, durch das zugleich Leben bedroht oder vernichtet wird, kann keine noch so sorgfältige Güterabwägung von dem Risiko des Schuldigwerdens befreien.“7

Vor dem Hintergrund der gesamten Denkschrift sind alle Stellungnahmen zu aktuellen Konflikten, Kriegen und Interventionen zu betrachten – ob zu Afghanistan, Libyen o.a.

Weder der Leitbegriff des Gerechten Friedens noch die Denkschrift der EKD bieten allerdings einfach ein Anwendungsraster für aktuelle Konflikte. Deshalb können auch die Texte zur rechtserhaltenden Gewalt nicht aus dem Gesamtkontext der Denkschrift und des Gerechten Friedens herausgelöst und zur Rechtfertigung des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan herangezogen werden.

Der Leitbegriff des gerechten Friedens ermöglicht es allerdings, in der Analyse von von Konflikten eine sehr viel breitere Perspektive einzunehmen als es gemeinhin getan wird. Angesichts des gerade vergangenen 10-jährigen Gedenkens an den 11. September 2001 ist z.B. nach den Wurzeln und der Vorgeschichte dieses Anschlags zu fragen. Welche – wenn auch keineswegs Gewalt rechtfertigenden – Gründe gibt es für diese Taten? Welchen Grund gibt es für den Hass auf den Westen und besonders die USA? Welche soziale und weltwirtschaftliche Ungerechtigkeit, welches kulturelles oder religiöses Überlegenheitsgefühl des Westens hat dazu beigetragen? Wie viel Schuld liegt also bei uns, im Westen für diesen Konflikt?

Auch in der Konfliktlösung bietet der Leitbegriff des gerechten Friedens eine breite Perspektive, wenn der Vorrang der Gewaltfreiheit und des Zivilen im Vordergrund steht und der Ruf nach dem Militär nicht alternativlos geschieht. Welche Mittel der gewaltfreien Konfliktlösung, der politischen und diplomatischen Lösung sind möglich? Ich kann hier nur andeuten, was nach wie vor eine Aufgabe darstellt: nämlich die Konkretisierung des Leitbegriffs des gerechten Friedens in einem nationalen und internationalen Kontext. Hier ist – so eines meiner persönlichen Erkenntnisse auch aus Kingston – noch eine Menge zu tun.

Im Hinblick auf Afghanistan heißt es friedens-ethisch: der militärische Einsatz unter Endouring freedom war überhaupt nicht zu rechtfertigen, der ISAF Einsatz mit einem Mandat der UNO ist mit so vielen Fragezeichen – auch aus den Erfahrungen der letzten zehn Jahre – versehen, dass es immer fragwürdiger wird, ob jemals ein militärischer Einsatz sinnvoll war und den friedensethischen Grundlagen auch nur annähernd entsprach. Wenn es etwas aus dem Einsatz in Afghanistan zu lernen gibt, dann ist es die dringende Frage nach den Alternativen zu einem militärischen Einsatz, wie er sich in den letzten zehn Jahren innerhalb eines sich ständig verändernden Auftrags entwickelt hat.

Im Hinblick auf Libyen habe ich mich im Licht der Denkschrift und des Leitbegriffs des gerechten Friedens geäußert und mich gegen ein militärisches Eingreifen gewandt – wohl wissend, dass die Situation der Bevölkerung z.B, in Bengasi ausgesprochen bedrohlich war. Auch wenn es hier ein Mandat der UNO gab, sind die Maßnahmen weit über die im Mandat hinausgegangen. Die NATO, bzw. die Staaten, die den Militäreinsatz getragen haben, sind in diesem Einsatz eindeutig Partei geworden.

Sowohl am Beispiel Afghanistan als auch Libyens wird deutlich, wie wenig die politisch Verantwortlichen über alternative Strategien verfügen und wie widersprüchlich die jeweiligen Interessen und Konzepte sind. Angesichts solcher disparaten politischen Vorgaben ist es weder den Soldatinnen und Soldaten noch den zivilen Kräften zuzumuten, in einen solchen Einsatz zu gehen, noch und vor allem ist den Ländern und den dort lebenden Menschen nachhaltig und langfristig geholfen.

Ich wiederhole hier das eben schon Gesagte: Ich glaube, dass hier die größte Herausforderung der Zukunft liegt: das Leitbild des gerechten Friedens in politische Strategien umzusetzen. Unsere Aufgabe als Kirche verstehe ich hier einerseits als Mahnerin zu fungieren, aber auch konkret an politischen Entwicklungen mitzuarbeiten.

3. Der Leitbegriff des Gerechten Friedens der Friedenskonvokation und das Ergebnis von Kingston

3.1 Ein ökumenischer Aufruf zum gerechten Frieden – „Richte unsere Schritte auf den Weg des Friedens“ (Lukas 1,79)

„Im Bewusstsein der Grenzen von Sprache und Verstehen schlagen wir vor, gerechten Frieden als einen kollektiven und dynamischen, doch zugleich fest verankerten Prozess zu verstehen, der darauf ausgerichtet ist, dass Menschen frei von Angst und Not leben können, dass sie Feindschaft, Diskriminierung und Unterdrückung überwinden und die Voraussetzungen schaffen können für gerechte Beziehungen, die den Erfahrungen der am stärksten Gefährdeten Vorrang einräumen und die Integrität der Schöpfung achten.“8

Diese Definition wird dann unter den Aspekten Konflikttransformation, Anwendung von Waffengewalt, Menschenwürde, Bewahrung der Schöpfung, Aufbau von Friedenskulturen und Friedenserziehung bedacht und in den Themenbereichen Frieden in der Gemeinschaft, Frieden mit der Erde, Frieden in der Wirtschaft und Frieden zwischen den Völkern weiter entfaltet.

Diese vier Themenbereiche haben dann auch die Friedenskonvokation in Jamaika bestimmt. Ihnen war jeweils ein Tag thematisch gewidmet, an denen in Bibelarbeiten, Plenen, Podien und Seminaren gearbeitet wurde.

Mit den vier Themenbereichen ist im Anschluss an den Konziliaren Prozess und die Dekade zur Überwindung von Gewalt noch einmal ein wichtiger programmatischer Schritt zu einer breiteren und differenzierteren Debatte eröffnet worden. Das ist mehr noch ein Arbeitsprogramm für die kommenden Jahre als schon ein Ergebnis der Konvokation.

3.2. Abschluss der Dekade zur Überwindung von Gewalt in Kingston

Hansulrich Gerber, mennonitischer Pastor aus der Schweiz, hat in dem Abschluss-Bericht zur Dekade zur Überwindung der Gewalt einige Punkte benannt unter der Überschrift What have we learned and where do we go from here9 – Was haben wir gelernt und wohin gehen wir von hier aus? Indem ich diese Punkte zitiere, schließe ich mich ihnen an!

Zum Ertrag der Dekade zur Überwindung der Gewalt nennt er sieben Punkte:

  1. Die Dekade hat das Thema Frieden, Versöhnung und Gerechtigkeit näher an die Herzen der Kirchen gebracht, aber noch nicht in das Zentrum des kirchlichen Lebens. So hat die Dekade darauf aufmerksam gemacht, inwiefern Frieden noch ein marginales Thema ist.
  2. Die Dekade hat geholfen, das Profil der Friedensinitiativen zu schärfen und ihnen zu helfen, ein Netzwerk zu bilden, z. B. durch das Instrument der Living Letters.
  3. Der Diskurs über Krieg, Frieden und Gewalt hat sich verändert von einer Debatte über den gerechten Krieg zu einer Ausarbeitung und zu einer Praxis des gerechten Friedens. Krieg ist dadurch inakzeptabel für die Kirchen geworden. In diesem Zusammenhang ist auch die Diskussion über die Schutzverantwortung in den Fokus gerückt.
  4. Während der Dekade ist die Komplexität der verschiedenen Themen rund um das Thema Gewalt sehr viel klarer geworden und der Diskurs ist differenzierter.
  5. Gewaltfreiheit hatte es bis jetzt schwer, ein theologischer Begriff unserer Liturgien zu werden. Die Dekade hat dazu verholfen, dieses Thema aus einer großen Ignoranz in den Mittelpunkt zu rücken.
  6. Durch Expertenkonsultationen hat die Dekade eine Plattform entwickelt, auf der die Bedeutung der Heilung der Erinnerungen und der Heilungsgeschichten aus verschiedenen Ländern der Erde wahrgenommen werden konnte. Regionale Konsultationen haben geholfen, die Themen „Vergebung“ und „Versöhnung“ zu entdecken.
  7. Schließlich hat die Dekade es ermöglicht, verschiedene Richtungen und Entwicklungen im interreligiösen Dialog voranzubringen.

Als Herausforderung und zukünftige Arbeit hat er wiederum fünf Punkte benannt:

  1. Gewaltlosigkeit und Frieden, die Heilung der Erinnerungen und die Versöhnung muss in das Zentrum des kirchlichen Lebens hineingerückt werden und das auch über die Dekade hinaus auf allen Ebenen des kirchlichen Lebens. Besonders die Gewalt der menschlichen Familie gegen die Natur wurde am Anfang der Dekade nicht genügend beachtet. Erst später wurde dieses Thema auf den Tisch der Dekade gebracht als eine dringende und drastische Herausforderung.
  2. Um die Entstehung von Konflikten zu verstehen und die Überwindung von Gewalt zu fördern, ist ein interdisziplinärer Zugang zu verschiedenen Themen der Gewalt notwendig. Ein solcher Diskurs muss sich vollziehen zwischen der Theologie, der Soziologie und der Anthropologie, um einen konsistenten Zugang von Kirchen, Zivilgesellschaft und der wissenschaftlichen Gesellschaft zu gewährleisten.
  3. Nach wie vor ist viel theologische und Bildungsarbeit zu leisten, um eine theologische Rechtfertigung von Gewalt zu überwinden. Auch dies ist eine ökumenische und interdisziplinäre Aufgabe.
  4. Gewaltfreiheit als ein Lebensweg und Zugang zu Konflikten muss als schöner spiritueller und praktischer Wert begriffen werden. Gewaltlosigkeit muss rehabilitiert werden in den Kirchen und in der Gesellschaft als ein realistischer, risikoreicher und vertrauensvoller Weg des Menschen.
  5. Das sinnlose und skandalöse Wachstum an Militärausgaben geschieht größtenteils, ohne dass die Kirchen sich herausgefordert wissen. Am Ende der Dekade kann erkannt werden, dass der Hunger der Welt eliminiert werden könnte mit der Summe, die in einer Woche für Militär ausgegeben wird. Die Dekade sollte Kirchen mobilisieren, für dieses Thema einzutreten.

4. Auf dem Weg nach Busan/Südkorea 2013

Zum Abschluss zitiere ich noch einmal die Abschlusserklärung von Kingston:

„Auf unserem Weg zum gerechten Frieden ist eine neue internationale Agenda aufgrund des Ausmaßes der Gefahren, die uns von allen Seiten bedrohen, von größter Dringlichkeit. Wir wenden uns an die ökumenische Bewegung als Ganze und insbesondere an die Verantwortlichen für die Planung der ÖRK-Vollversammlung, die 2013 in Busan (Korea) unter dem Thema „ Gott des Lebens, weise uns den Weg zu Gerechtigkeit und Frieden“ stattfinden wird, und rufen sie auf, dem gerechten Frieden in all seinen Dimensionen höchste Priorität zu geben. Materialien wie „Ein ökumenischer Aufruf zum gerechten Frieden“ und der „Begleiter auf dem Weg zum gerechten Frieden“ können eine Hilfestellung auf dem Weg nach Busan sein.“10

Drei Anmerkungen dazu:

  1. Die Dekade zur Überwindung der Gewalt hat den Konziliaren Prozess für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung in viele konkrete Projekte und nachhaltige Handlungsweisen umgesetzt – das ist ihr klarer Erfolg und ihre nachhaltige Wirkung. Diesen Weg gilt es fortzusetzen.
  2. Es bleibt die Aufgabe, in der Ökumene Einigkeit und Einheit zu finden unter dem Leitbegriff des Gerechten Friedens. Noch ist das nicht geschafft. Die unterschiedlichen theologischen, politischen und kulturellen Hintergründe gehen noch weit auseinander. Hier ist noch viel theologische Arbeit zu leisten. Hier geht es besonders um die Frage des Verhältnisses von Gewaltfreiheit und Schutzverantwortung.
  3. Die Abschlusserklärung nennt das große Ausmaß der Gefahren für den Frieden und fordert, den gerechten Frieden auf die internationale Agenda zu setzen. Angesichts der Erfahrungen in Afghanistan und anderen Konfliktherden sind dringend Alternativen zu militärischen Einsätzen zu entwickeln. Dabei müssen wir uns als einzelne Christinnen und Christen und als Kirchen insgesamt in den politischen Dialog einmischen.

Ich möchte schließen mit den Worten, mit denen die Abschlusserklärung in Kingston endet:

Dank und Lob sei dir, o dreieiniger Gott: Ehre sei dir und Friede deinem Volk auf Erden. Gott des Lebens, weise uns den Weg zu Gerechtigkeit und Frieden. Amen.



Fußnoten

1 Ehre sei Gott und Friede auf Erden, Botschaft der Internationalen ökumenischen Friedenskonvokation http://www.gewaltueberwinden.org/de/materialien/oerk-materialien/dokumente/praesentationen-ansprachen/ioefkbotschaft.html, Hervorhebung vom Autor des Vortrags

2 ebd, Hervorhebung vom Autor des Vortrags

3 Kirchenamt der EKD (Hrsg.), Ökumenische Versammlung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung Dresden – Magdeburg – Dresden, Texte 38, 1991, Theologische Grundlegung

4 Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen. Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 2007, S. 54, Ziffer 80

5 ebd. S. 9

6 ebd. S. 42, Ziffer 60

7 Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen. Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 2007, S. 70, Ziffer 103

8 Ehre sei Gott und Friede auf Erden, Botschaft der Internationalen ökumenischen Friedenskonvokation http://www.gewaltueberwinden.org/de/materialien/oerk-materialien/dokumente/praesentationen-ansprachen/ioefkbotschaft.html

9 Overcoming Violence: The Ecumenical Decade 2001–2010, S. 131 ff Copyright ©2011 World Council of Churches, 150 route de Ferney, P.O. Box 2100, 1211 Geneva 2, Switzerland. http://www.gewaltueberwinden.org/fileadmin/dov/files/OvercomingViolence.pdf, Kürzung und Übersetzung vom Autor des Vortrags

10 Ehre sei Gott und Friede auf Erden, Botschaft der Internationalen ökumenischen Friedenskonvokation http://www.gewaltueberwinden.org/de/materialien/oerk-materialien/dokumente/praesentationen-ansprachen/ioefkbotschaft.html